10.02.2023
Visionär und resilient in die Zukunft
Mit klarem „Ja“ beantworteten die Experten beim digitalen Salon die Frage: Kann Bio die Welt ernähren? Es müsse jedoch eine gesamtgesellschaftliche Veränderung damit einhergehen.
Beim digitalen Salon beleuchteten Tina Andres, Vorstandsvorsitzende BÖLW (Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft), Marco Schlüter, Interim Executive Director, IFOAM – Organics International, Jörg Reuter, Head of Food Campus Berlin und Geschäftsführung Artprojekt Nature & Nutrition GmbH sowie Max Thinius, Futurologe, die unterschiedlichen Perspektiven und Dimensionen von Ernährungssouveränität und stellten dabei Bio sowie Ernährungssicherheit in den Fokus ihres (virtuellen) Austausches.
Ein ganz klares „Ja“ war die Antwort aller vier Experten auf dem virtuellen Podium auf die Frage: Kann Bio die Welt ernähren? Damit müsse jedoch eine gesamtgesellschaftliche Veränderung einhergehen: Das Ernährungsverhalten des globalen Nordens müsse sich beispielsweise in Richtung der ökologischen Planetary Health Diet entwickeln, dafür müssten die Anbauflächen zu Gunsten des Bio-Nahrungsmittelanbaus umverteilt werden. Unter diesem Aspekt funktionieren Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität gemeinsam.
Dimensionen der Ernährungssouveränität
Im digitalen Salon wurde schnell klar, welche unterschiedlichen Dimensionen Ernährungssouveränität hat und wie vielschichtig und miteinander verzahnt diese sind. Marco Schlüter, Interim Executive Director IFOAM, betonte, dass Ernährungssouveränität für Kleinbauern in erster Linie bedeute, frei entscheiden zu können, was und wie sie anbauen. „Kleinbauern, die heute etwa 80 Prozent der Lebensmittel weltweit produzieren, möchten unabhängig von der Agrarindustrie handeln. Der freie Zugang zu Saatgut und die Möglichkeit, eigenes Saatgut zu vermehren und ohne gesetzliche Restriktionen weiterzugeben, ist für sie entscheidend. Dies wiederum fördert die Vielfalt im Anbau und macht Systeme resilienter. Denn solch artenreiche, stabile Anbausysteme wie Agroforst und Permakultur sind ein enormer Hebel im Kampf gegen Hunger und Armut.“ Aus Sicht von Futurologe Max Thinius ergeben sich mit neuen Technologien, digitaler Vernetzung und dem Fakt, dass auch im globalen Süden der Zugang zum Internet über ein Smartphone nahezu überall gegeben ist, viele neue Möglichkeiten für Landwirte auf der ganzen Welt. „Mit der zunehmenden Datenerhebung kann enorm viel Wissen zu Bio aufgebaut und ganz einfach geteilt werden. Das wird zur Souveränität der Kleinbauern beitragen.“Ernährungssouveränität liegt allerdings optimaler Weise sowohl bei den Produzenten als auch beim Verbraucher. Je mehr Wissen vorhanden ist, desto einfacher kann eine Entscheidung für ein nachhaltig hergestelltes Lebensmittel getroffen werden. Auch in diesem Bereich, so Max Thinius, wird der Zugang zu Wissen durch die Digitalisierung erleichtert und unmittelbar für Jedermann verfügbar werden. Jörg Reuter, Head of Food Campus Berlin, hingegen betont, dass Essen immer auch mit gesellschaftlich geprägtem Habitus zu tun hat. „Nicht bei jeder Wahl entscheidet die Vernunft. Ein Metalabel wie der Planet Score würde viele Verbraucher in ihrer Entscheidung für ökologische und nachhaltige Produkte unterstützen. Denn der Planet Score gibt in einem selbsterklärenden Ampelsystem Auskunft über Umweltauswirkungen eines Lebensmittels an. Gleichzeitig müssten wir den Schritt von einer Planetary Health Diet zu einem Planetary Health Lifestyle gehen, um die Menschen lustvoll mitzunehmen. Würden alle Konsumentinnen und Konsumenten die Planetary Health Diet verinnerlichen, könnten allein in Deutschland 70 Millionen Menschen zusätzlich ernährt werden. Das zeigt, wie viele Kraft und Relevanz in Bezug auf die Ernährungsversorgung und -souveränität hinter diesem Konzept steckt. Die Transformation braucht jedoch Zeit, auch wenn jüngere Generationen schon jetzt viel selbstverständlicher zu veganen Lebensmittelalternativen und New Proteins greifen.“
Tina Andres, Vorstandsvorsitzende des BÖLW, fordert mit Blick auf die politischen Entscheidungen in Berlin, dass weitere Maßnahmen auf dem Weg der Transformation umgesetzt werden. „Wir brauchen eine Intensivierung der Forschung zu Bio, um das System Bio auch weiter zu entwickeln. Daneben kommen wir nicht an der Internalisierung externer Kosten, den True Costs, vorbei. Nur die transparente Kommunikation und die Weitergabe der sogenannten Wahren Kosten ermöglichen es, gesellschaftliche Mehrkosten zu senken. Die multiplen Krisen zeigten deutlich: Bio ist resilienter, regenerativer und preisstabiler. Das muss viel stärker kommuniziert werden.“ Max Thinius ergänzt: „Die zunehmende Transparenz von Herkunft und Verarbeitung, die die Verbraucher einfordern und erlangen, wird Druck auf die Industrie ausüben. Der Wunsch der Gesellschaft nach mehr Qualität und Verantwortung ist nicht zu überhören.“ Marco Schlüter fordert außerdem mehr Pragmatismus, weniger Ideologie: „Weltweit gibt es so viele hervorragend funktionierende Beispiele. Diese Narrative für mehr Tierwohl, gesündere Lebensmittel und fruchtbare Böden müssen wir motivierend nutzen und unbürokratisch nachahmen.“
„Ich bin davon überzeugt: Wir werden uns ökologisch ernähren oder eben gar nicht. Wichtig für die Transformation ist es, Wirksamkeiten im eigenen Leben aufzuzeigen. Es geht nicht um Verbote oder Verzicht. Im Gegenteil: Ich kann mir sehr gut vorstellen, in einigen Jahren wunderbar nachhaltig Urlaub zu machen, weil sich Flugzeuge beispielsweise klimaneutral fortbewegen. Ich kann mir ein komplett anderes Gesellschaftssystem vorstellen, in dem es einen hohen nachhaltigen Lebensstandard für uns gibt - und das ohne Verluste“, ist sich Tina Andres sicher: „Und deshalb müssen wir viel mehr positive Bilder gestalten und die Optionen aufzeigen, wie wir uns die Zukunft vorstellen.“
Mit dieser Conclusio endete der erste digitale Salon der BIOFACH und VIVANESS und war gleichzeitig eine Einladung, auf dem diesjährigen Kongress mit dem Schwerpunkt „Bio. Ernährungssouveränität. Wahre Preise.“ weiter zu diskutieren und Teil der Transformation zu sein.